Die Kampfkunst der fliegenden Arme 10.12.2012

Im Berliner Kurier erschien ein doppelseitiger Bericht über Wing Tai Berlin. KURIER-Reporterin Nastasia Schiweg bekam ein intensives Probetraining...

Berlin – Eine Großstadt ist ein heißes Pflaster. So manchen Abend denke ich zweimal darüber nach, ob ich wirklich mit der U-Bahn nach Hause fahre. Wo viele Menschen leben, gibt es eben immer auch viele Idioten. Und was tue ich, wenn ich auf einen dieser Idioten treffe – und er mich angreift?

„Dein natürliches Fluchtverhalten nutzen!“, empfiehlt „Sen-Tai“ Frank Becker (43), Leiter der noch jungen Wing Tai Akademie Berlin-Friedrichshain.


Mppfff, und so was rät mir ein Kampfkunst-Trainer! Na ja, ich werde bei meinem Probetraining bestimmt noch etwas anderes lernen, sonst hätte ich ja auch einen Laufkurs machen können, oder?


„Wir sind kein Fitnessstudio“, betont der Sen-Tai. „Wir behalten uns im Zweifelsfall das Recht vor, Interessenten auch abzulehnen.“
Alles klar.


Ein Gong tönt durch die Halle. Die Schüler wärmen sich auf: kreisen Knie, Hüfte und Oberkörper, Kopf und Arme...


Ich suche mir einen Partner, winkle meine Arme an und soll immer abwechselnd den linken und rechten Unterarm meines Partners blockieren.


„Wing kommt vom englischen Flügel, Tai von harmonisch fließend“, erklärt Frank Becker. Als er die Übungen vormacht, sehe ich auch, was er meint. Fliegende Arme, die sich schnell bewegen.


 Ja, mit dieser Übung könnte ich meinen Angreifer zumindest verdutzen, flachse ich.


„Es geht beim Wing Tai immer um Raum, Kraft und Zeit“, erklärt Becker. „Wenn zum Beispiel eine Frau von einem stärkeren und größeren Mann angegriffen wird, zeigen wir ihr Möglichkeiten, aus der Situation heil herauszukommen.“


Wir kreuzen unsere Unterarme, drehen uns im Kreis und werden schneller. Puh, so langsam komme ich ins Schwitzen. Und meine Unterarme sind schon ganz rot von den Schlägen, aber irgendwie macht es Spaß.


Der Sen-Tai erweitert die Übung. Unser Partner versucht nun, uns zwischen den kreuzenden Armen Ohrfeigen zu verpassen, und wir versuchen, das zu verhindern. Folgt ein Schlag von rechts auf meinen Kopf, wehre ich mit links ab. Und umgekehrt.


„Die Raumdiagonale verschafft uns Zeit, so können wir uns gut verteidigen“, sagt Becker. Er unterrichtet seit 1995 Kampfkunst und leitet seit einem Jahr die Wing Tai Akademie in Berlin.


 Wie viele Kampfkunstarten es gibt, weiß niemand. Die meisten sind Jahrhunderte alt, stammen aus Asien (allein 500 Stile sollen aus China kommen), manche aus Europa. Wing Tai ist einer der neuesten Stile, ein Mix aus verschiedenen Elementen, entwickelt von Heinrich Pfaff (43), Leiter des Wing Tai Hauptquartiers in Bensheim.


Inzwischen gibt es Wing Tai-Akademien auch in Hamburg und Kiel, zudem mehrere Schulen bundesweit. Schon Kinder ab 6 Jahre können dort lernen.


Warum gerade Wing Tai, Herr Becker? „Bei anderen Kampfsportarten hat mich immer gestört, dass ich Fehler nicht 100-prozentig erklären konnte. Einen Treffer zu kassieren, ist keine Schande, bleibt aber letztendlich ein Fehler, der analysiert werden kann. Im Wing Tai bleiben keine Fragen offen.“


Zum Ende der ersten Stunde machen wir eine vereinfachte Form des Sparrings. Mir gegenüber steht Elisabeth Steffen (26), eine hübsche blonde Frau, so alt wie ich. Der Sen-Tai zeigt mit ihr, wie Wing Tai fortgeschritten aussieht. Beide tragen Boxhandschuhe. Er ist viel größer und kräftiger als sie. Aber sie wehrt alle noch so harten Schläge und Tritte ab. Wow, blitzschnell!


Ich soll nun mit Elisabeth trainieren. Nach meinem ersten Schlag lacht sie, fordert: „Komm schon, da geht noch mehr!“ Es ist merkwürdig, jemanden zu schlagen. Bud-Spencer-Hau-Drauf-Filme fand ich immer lustig, aber so eine Schelle ist nicht lustig. Sie tut weh, wenn man sie schlägt. Und abbekommt. 

Zwei Stunden sind um. Mein Gesicht glüht, meine Arme tun weh. Aber ich spüre eine tiefe Zufriedenheit. Ich konnte die Technik schnell umsetzen und schon ganz gut auf Schläge reagieren.


Eine Woche später. Peter Hoefs (52), Leiter der Wing Tai Schule Berlin-Mitte, ist diesmal mit von der Partie. Er ist etwas kleiner, aber genauso kräftig wie Frank Becker. Beide zeigen, was heute anliegt. Schläge und Tritte knallen auf Boxhandschuhe. Aber so hart ihre Vorübung ist – es sieht sehr elegant aus.


Die „Lehre der vier Fenster“ steht auf dem Programm. Oben, rechts, links; unten, rechts, links. Die Arme sollen sich vorher auf Höhe des Brustbeins befinden, um von dort aus alle Körperzonen schützen zu können. Jetzt schlagen wir abwechselnd auf die „Fenster“ des anderen, mit Druck, in Bewegung.


„Heute sollen reale Situationen trainiert werden“, sagt der Sen-Tai. „Wenn ihr angegriffen werdet, ist das hart. Ihr müsst wissen, wie sich das anfühlt. Auch ein bisschen Angst ist gut im Training, denn in Wahrheit ist sie auch da.“ Das werde ich gleich erfahren.


Der Sen-Tai, gefühlt doppelt so groß und schwer wie ich, ist jetzt mein Partner. Ich soll seine Schläge abwehren und ihm welche verpassen. Er wartet, und ich weiß schon jetzt: Das wird nix!


Ich schlage zu, er blockt und kontert, natürlich nicht so hart, wie er könnte, aber für mich reicht es. Allein die Situation, vor einem großen Mann zu stehen, der mich schlägt, lähmt mich. Nachdem ich die ersten Treffer kassiert habe, wache ich auf: Ich versuche, so gut wie es nur geht mitzuhalten.


Wing Tai ist sehr realitätsnah. Ich kann mir vorstellen, dass es einem zumindest die berühmte Sekunde Zeit verschafft, um sich aus dem Staub zu machen. Es wird nicht ohne Grund an einer Akademie gelehrt.


„Wing Tai ist sehr komplex, eine Wissenschaft, die aber großen Spaß macht“, gibt mir Frank Becker mit auf dem Weg. Irgendwie laufe ich jetzt etwas aufrechter.

 

@ Berliner Kurier